Deserteur Weißmüller
Auszug aus: „Schwabenstreiche“ (Von Spaßmachern, Spottvögeln und Spitzbuben) von Hans Wolfram Hockl
Eingesandt von unserem Landsmann Hans DAMA aus Wien
Die Ereignisse, die der folgenden Geschichte zugrunde liegen, sind so außergewöhnlich wie die Zeit es war, in der sie sich zutrugen. Der geneigte Leser möge bedenken, dass wir über viele Geschehnisse jener Tage heute von Herzen lachen – damals aber lagen sie uns schwer auf dem Herzen. Meine Geschichte schlägt eines der heitersten Blätter jener düsteren Zeit auf. Etliche Namen habe ich geändert; die Tatsachen jedoch sind getreu wiedergegeben. Den Haftbefehl gegen Johnny Weißmüller, im landesüblichen Gebrauch damals noch Ioan Weißmüller, hatte sich mein Freund Karl Fischer, Lehrer in Freidorf, vom umgänglichen Wachtmeister Turdeanu ausgeborgt und mir gebracht. Ich machte mir eine Abschrift und lernte diesen historischen Haftbefehl im Lauf der Zeit Wort für Wort auswendig, die köstlichen Anmerkungen des Wachtmeisters Turdeanu nicht ausgenommen.
An einem Morgen des unruhigen Frühjahrs 1938 herrschte auf dem Kasernenhof des 5. Jägerregiments in Temeswar, der Hauptstadt des rumänischen Banats, ein außergewöhnlich reges Treiben. Mehrere Reservejahrgänge waren einberufen worden. Schon in der Nacht hatten sich viele Männer und Burschen eingefunden und nun, am frühen Morgen, kamen ständig neue Gruppen hinzu. Kommandorufe, Flüche, Befehle, Pfiffe und Hornsignale peitschten erbarmungslos auf die verwirrten Haufen dieser armseligen, über Nacht ihres bürgerlichen Gleichgewichts beraubten Zivilisten ein. Aus einer Ecke des riesigen Kasernenhofes wurden sie in die andere gehetzt, kaum dass sich das hohe eiserne Tor zur Freiheit hinter ihnen geschlossen hatte. Nur den Schlauesten der Reservisten waren rechtzeitig die noch aus der aktiven Dienstzeit bekannten Verstecke hinter der Küche und den Stallungen eingefallen. Dort fühlten sie sich irgendwie in Sicherheit, ließen die mitgebrachten Schnapsflaschen in verzweifelter Entschlossenheit umgehen, rauchten mit derselben Verzweiflung eine Zigarette an der anderen an und lachten befreit auf, wenn sich auf dem Hof irgendwo die Fistelstimme des Stabsfeldwebels Cricitoiu überschlug:
„Ihr Nichtswürdigen! Ihr Tagediebe! Ihr Banditen! Ich werde euch das Soldatenleben schon schmackhaft machen. Wo bleiben die anderen in ihrer ...?“„Gemeinde Freidorf ist vollzählig angetreten, Herr Feldwebel!“, rief ein Blondschopf aus dem dritten Glied, wo er sich eben unbemerkt eingeschlichen hatte.„Wer ist dies kecke Hähnchen? Heraus mit dir in deine ...“ „Zu Befehl, Herr Feldwebel. Sie sollen leben! Ich bin es, der Gefreite Fischer Carol.“ „Ehj, du bist es, mein Bübchen, mein Herzliebchen. Wo treibst du dich herum, während ich mir die Seele aus dem Leibe schreie?“ „Zu Befehl, Herr Feldwebel, Sie sollen leben! Ich hab mit dem Kleingärtner, mit dem Dix und mit dem Daum hinten im Hof strafexerziert.“
Der Stabsfeldwebel schmunzelte. Strafexerzieren – das hieß ins Zivilistische übertragen soviel wie: Wir haben uns ein Schlückchen gegönnt; die Flasche für den Herrn Stabsfeldwebel steht im Fenster wie immer. Kosten Sie diesen Freidorfer Seelentrost! „Gut, mein Täubchen!“ Er fingerte ein Papier aus einer Mappe und entfaltete es: „Gemeinde Freidorf!“, rief er und blitzte seine Schutzbefohlenen drohend an. „Aubermann Filip!“ – „Hier!“ – „Burghardt Laurentiu!“ – „Prezent!“ – „Bücher Viliam!“ – „Prezent!“ – „Daum Josif!“ – „Prezent!“ – Und dann der letzte Name: „Weißmüller Ioan!“ – Schweigen. Die Männer aus Freidorf sahen einander an.
„Wo in seine ..., wo ist der Weißmüller Ioan?“ Schweigen. Einige zuckten nach Zivilistenart ratlos die Schulter.„Gefreiter Fischer! Wo ist der Weißmüller Ioan?“ „Zu Befehl, Herr Feldwebel, Sie sollen leben! Aber der Weißmüller Ioan ist ein alter Mann.“ „Pass gut auf, mein Söhnchen, mein herzliebes! Willst du mich zum Narren halten?“ „Zu Befehl, Herr Feldwebel, Sie sollen leben! Aber der Weißmüller Ioan ist genau siebenundachtzig Jahre alt.“
Niemand wagte es noch, die Schulter zu heben. Diese feste Antwort und das kaum wahrnehmbare, aber doch zustimmende Nicken der sechsunddreißig Köpfe machten den Gestrengen doch stutzig. Er steckte den Zettel ein und murmelte: „Den werde ich schon kriegen!“
Nach dem Appell begab er sich sofort in die Schreibstube und fasste eine Meldung ab. Kurz und militärisch: „An das Ergänzungsbezirkskommando Timi¥oara. Der Gemeine Weißmüller Ioan, geboren am 17. April 1908 in Freidorf, Sohn des Weißmüller Ioan und der Tereza geborene Losert, hat der Einberufung nicht Folge geleistet.“ Das Ergänzungsbezirkskommando arbeitete in diesen Tagen unter Hochdruck. In den Schreibstuben kratzten die Federn und klapperten die Maschinen, Schreiber und Hilfsschreiber durchwühlten die Akten und machten das gewohnte Durcheinander noch unentwirrbarer, Ordonnanzen mit dicken Ledertaschen flitzten davon oder lungerten in den langen Gängen herum. In diesen Hexenkessel flatterte die Meldung des Stabsfeldwebels Cricitoiu. Nicht lange danach ging eine Order ab. Kurz und militärisch: „An den Gendarmerieposten der Gemeinde Freidorf. Der Gemeine Weißmüller Ioan (und so weiter) hat unverzüglich dem Einberufungsbefehl No. 341/C., MStM., Folge zu leisten, ansonsten er unter den P. 28b des Militärstrafgesetzbuches fällt.“
Wachtmeister Turdeanu in Freidorf erhielt die Order bereits nach drei Tagen, obwohl es von Temeschwar bis Freidorf nahezu zwölf Kilometer sind. Schon am übernächsten Tag schickte er einen Gendarmen mit der strengen Weisung aus, den säumigen Reservisten aufzusuchen. Am späten Nachmittag kam der Gendarm mit der Meldung zurück, der Gesuchte sei nicht vorhanden. Wachtmeister Turdeanu setzte sich hin und schrieb auf die Order: „Das genannte Individuum ist in der Gemeinde Freidorf nicht aufzufinden. Dagegen ist in der Gemeinde Freidorf ein Individuum zuständig, das den gleichen Namen trägt, aber in Anbetracht seines Alters von siebenundachtzig Jahren mit dem Gesuchten nicht identisch sein kann.“
Ein paar Tage später fiel dieselbe Order wieder auf seinen Schreibtisch, diesmal aber nicht unscheinbar und harmlos wie beim ersten Mal, sondern von dem wohlbekannten, gefürchteten, mit einem dicken roten Strich gekennzeichneten Haftbefehl begleitet.
„Der Gemeine Weißmüller Ioan (und so weiter) ist unverzüglich zu fahnden, zu verhaften und unter strengster Eskorte einzuliefern!“ Da haben wir es! Der Geschwänzte soll diesen Weißmüller holen! Wachtmeister Turdeanu eilte höchstpersönlich zum Gemeindeamt. Der Gemeindeschreiber blätterte in einem dicken Register: „Aha! Weißmüller Johann, geboren am 21. November 1851. Das ist der alte Vetter Hans. Einen Moment, meine Herren! Er hatte einen Sohn – hier ist er: Weißmüller Janos, geboren am 5. Juni 1875. Einen Moment, meine Herren! Der hatte auch einen Sohn. Hier, meine Herren, hier ist er: Weißmüller Janos, geboren am 17. April 1908. Herr Wachtmeister, hier ist Ihr Mann.“
„Was hab ich davon, dass er in Ihrem neunmal verfluchten Register steht? Ich muss ihn lebendig haben. Hier – lesen Sie: fahnden, verhaften und unter strengster Eskorte einliefern!“ Der Gemeindeschreiber dreht die Arme nach außen. „Tut mir Leid, Herr Wachtmeister, dass Sie ihn nicht verhaften können; er ist nämlich vor etwa fünfundzwanzig Jahren mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten von Nordamerika ausgewandert. Seither hat kein Mensch mehr von ihm ein Sterbenswörtchen gehört.“
Wachtmeister Turdeanu ging ins Wirtshaus und brachte sein gestörtes körperliches und seelisches Gleichgewicht mit einem Gulasch und einem halben Liter Zilascher kostenfrei wieder in Ordnung. Dann verfügte er sich nach Hause, nahm noch einen Schluck aus der Flasche, die ihm der Wirt diskret in die Tasche versenkt hatte und schrieb auf den Haftbefehl: „Genanntes Individuum ist im Jahre 1912 zur Auswanderung gebracht worden.“ Diese Idioten im Ergänzungsbezirkskommando. Jetzt werden sie ihn endlich streichen.
Doch mit der Gründlichkeit des Ergänzungsbezirkskommandos hatte er nicht gerechnet. „Weißmüller!“, murmelten die Schreiber und Hilfsschreiber und wälzten die unmöglichsten Vermutungen in ihren Gehirnen. Diesen Namen hat man doch schon ein- oder zweimal gehört! „Weißmüller!“, murmelte der Stabsschreiber Movil¥ und klopfte beim Herrn Hauptmann an. „Weißmüller! Weißmüller!“, murmelte der Herr Hauptmann und begab sich zum Herrn Oberst. „Weißmüller! Weißmüller!“, schaute der Herr Oberst von einigen Fotografien seiner neuen Schweinemästerei auf. Ein Fragebogen wurde nach Freidorf geschickt; darauf standen zwei Dutzend staatswichtiger Fragen und hinter jeder Frage lauerte der amtlich leere Raum auf das Gewissen der Untertanen.
Dieser Akt fiel wie ein Stein vom Himmel auf den Tisch unseres seit zwei Wochen wieder in alter Beschaulichkeit regierenden Wachtmeisters Turdeanu in Freidorf. „Neunundneunzigmal verflucht!“ Er donnerte in die Gemeindestube. Er sprach mit dem Notar. Sie sprachen mit dem Gemeindeschreiber. Dann füllten sie mit vereinten Kräften den Fragebogen aus: „Weißmüller Ioan, geboren am 17. April 1908, ist ein weltberühmter Filmschauspieler!“ Drei rote Rufzeichen dahinter. Dann tauchte Wachtmeister Turdeanu die Feder tief ein, machte einen Schnaufer, strich sich über den Speckbauch und schrieb: „Genanntes Individuum ist identisch mit dem weltberühmten Filmschauspieler Johnny Weißmüller, genannt Tarzan, der in den Urwäldern Amerikas lebt und sich wie ein Affe von Baum zu Baum schwingt!“ Datum, Stempel, Unterschrift. So! A¥a! Jetzt ist der Fall erledigt!
Im Herbst des gleichen Jahres lud der Lehrer Karl Fischer aus Freidorf die drei Hauptakteure dieser Geschichte zu einem Besuch des Capitol-Kinos ein. Überall in der Stadt schrie von den Plakaten der Name: „Johnny Weißmüller – als Tarzan!“ Als sie das Kino verließen, machte sich Stabsfeldwebel Cricitoiu mit schwacher Stimme bemerkbar: „Meine Herren! Was sagen Sie zu unserem Weißmüller?“ Wachtmeister Turdeanu konnte nur noch stöhnen. „Unser Weißmüller! Meine Herren! Domnilor! Haben Sie gesehen, wie sein erster Schlag den Kopf der Riesenschlange, sein zweiter Schlag den Kopf des Krokodils, sein dritter Schlag den Kopf des Tigers zerschmettert hat? Und wie der Orang-Utan beim Anblick unseres Tarzans geflohen ist – unser Tarzan ihm nach – von Baum zu Baum – von Ast zu Ast – jetzt ist er dicht hinter ihm – jetzt hat er ihn – ein Schlag mit der Keule – zerschmettert sinkt der Orang-Utan vornüber! Und diesen unüberwindlichen Helden sollte ich fahnden, verhaften und unter strengster Eskorte ins Gefängnis einliefern. Dem Himmel sei Dank, dass er ihn rechtzeitig nach Amerika geführt hat! Ja, Gott sei gelobt und sein Name sei tausendmal gepriesen!“ |
Schwarzfahrer
Entnommen aus Hans Damas Prosaband „UNTERWEGS“ (2003)
von Hans Dama
Volkswirtschaftlich gesehen, ist Sparen eine Tugend, grenzüberschreitend. Und wie sollte man Tugendhaftes übersehen oder gar übergehen, hatten wir doch schon in frühester Kindheit den Spargedanken über alles und vor allem noch lange vor irgendeinem geldinstitutionellen Werbeslogan in Ehren zu halten gelernt. Sparen war notgedrungen, bedeutete es doch, einigermaßen bitteren Zeiten - die sich ja in Ceau¥escus „Blütezeit“ auch tatsächlich eingestellt hatten - mit akribischer Sorgfalt überlebenschancenwahrend entgegenbangen zu dürfen. Wir durften auf Schritt und Tritt sparen und wollten dies auch ausdrücklich unter Beweis stellen: also sparte man überall, auch dort, wo man sich durch Sparen, anderen, Mitmenschen zum Beispiel, unmittelbar behilflich erweisen konnte, ja sogar fruchtbringerisch zu agieren imstande sein wollte.
Nehmen wir doch beispielsweise den Eisenbahnschaffner: Er hat es nicht leicht, ungeregelte Arbeitszeit, ununterbrochen riechkolbenbekitzelnden Ausdünstungsvorgängen an „unsicheren“ – im Sinne von schaukelnden, dafür aber abwechslungsreich erscheinenden Arbeitsplätzen ausgesetzt... Warum soll man ihm und seinesgleichen von unseresgleichen, vom kleinen zum kleinen Mann also, nicht unter die Arme greifen: ich meine finanziell. Und zu den kleinen Leuten zählten nicht nur Schüler, Studenten, Arbeiter, Künstler, Büroangestellte usw. usw. Einander helfen bedeutete, sich selbst helfen...
Also kaufte man sich keine Fahrkarte, schädigte den Staat, sparte selber, half dem Nächsten, sprich dem Eisenbahnschaffner, indem man ihm vor Abfahrt des Zuges, und sei es nur mit Blickkontakt, zu verstehen gab, dass man fahrkartenlos einsteige. Die Entwicklung nahm ihren Lauf: Man bereitete einen Teil des Fahrpreises in bar vor. Je länger die Reise, desto kleiner der dem Schaffner zu entrichtende Anteil: ein Drittel, ein Viertel, oft – auf Langstrecken – bis zu einem Zehntel des Tarifes wanderten in die Taschen des guten „Onkels“. Ja, ja, leben und leben lassen, das war die Alltagsphilosophie, die, die meisten Menschen in den ehemaligen Ostblockstaaten vor der Verzweiflung gerettet und vor nihilistischen Abgründen zu bewahren verstanden hatte. Dass bei solchen Vorgangs- und Denkweisen der Staat geschädigt wurde, störte wohl niemanden, denn ER – und das im totalitären System – tat so, als ob er seine Untertanen bezahlte, und die Menschen taten so, als ob sie ihm dienten.... Ein Teufelskreis. Er ist jedoch das Beweisstück für das herabgekommene und abgewirtschaftete System, für die Einstellung der Millionen, deren Denk- und Handlungsweise es fortan umzukrempeln galt.
Schwarzfahrer im eigentlichen Sinne war man ja schließlich keiner, denn als mit dem Schaffner Kollaborierender drückte man sich doch keineswegs vor seiner Amtshandlung, sondern verständigte sich über pari mit ihm bei der Ausübung seiner Pflicht, die Fahrkarten der Reisenden zu kontrollieren. Gewissen?
Ja?! Die kommunistische Institution Staat formte sich ihre Bürger, zu Unter-Genossen, zu Menschen zweiter Klasse degradiert, setzte ihnen prägend den Stempel auf und erhielt prompt die Retourkutsche serviert. Das Beispiel Eisenbahnfahrten ist nur eine von vielen stillen, gegen den Staat gerichteten Protestformen, die zwar keine in dieser Richtung bewusst angelegte Aktion zu bedeuten hatte, sondern eher dem Unterbewusstsein entsprungen sein dürfte.
Kurzum, ich bestieg in P. den Mittagszug, einen Triebwagenbummelzug, um nach Temeswar zu fahren. Überfüllt, wie immer, mit Pendlern, die zur Nachmittagsschicht in die Stadt unterwegs waren, forschte ich nach einem eventuell noch freigebliebenen Plätzchen, um die einstündige Fahrt arbeitend überbrücken zu können. In einer Ecke des Großraumabteils – die Wagengarnitur stammte aus den dreißiger Jahren, war also gute vierzig Jahre überzeitig, erspähte ich das bekannte Gesicht des Herrn M., der mir auch schon mit eindeutigem Handzeichen zu verstehen gab, dass der Platz neben ihm noch zur Verfügung stünde. Also steuerte ich auf mein Ziel zu.
Herr M., ehemaliger Bahnhofsvorstand in P., war vor einiger Zeit mit seiner Familie nach Temeswar übersiedelt. Er hatte sich vermutlich dienstlich verbessern können. Warum auch nicht. Eine smarte Erscheinung, redegewandt und höflich. Wir kannten einander, wie man sich so kennt, wenn man als Pendler über „sein“ Bahnhofsareal dahinhastete, gelegentlich Worte zu wechseln Zeit gefunden hatte oder über die schulischen Fortschritte seiner Tochter Dana doch ab und zu mal eingehender zu plaudern imstande gewesen war.
Herzliche Begrüßung, höfliche Erkundigung nach dem gegenseitigen werten Befinden... Wir sprachen über seine Familie, über die jetzige Schule seiner Tochter, über meine Erledigungen in der Stadt. Der Zug hatte sich längst in Bewegung gesetzt, und siehe, da erscheint der Schaffner, eifrig seines Amtes waltend. Ich hatte ihn vor dem Zusteigen kontaktiert und wartete darauf, wie er nun reagieren würde, denn Herr M. gleichfalls als Eisenbahnbediensteten zu diagnostizieren, dürfte für den Schaffner nicht allzu schwer gewesen sein. Und tatsächlich: der altgediente „Onkel“ erbleichte, als er mich neben Herrn M. ortete, doch er ließ seine jahrzehntelange -- man kennt sich ja so auf den Nebenbahnen - Schaffnerroutine tanzen, überging auf seinem Fahrkartenentwertungsgang sowohl Herrn M. als auch mich mit gekonnter Eleganz, weil er allem Anschein nach, sich in unser lebhaftes Gespräch nicht zäsurierend hatte einschalten wollen.
„Hürde geschafft,“ dachte ich. Auch Herrn M. schien es scheinbar nicht gestört zu haben, dass der „Onkel“ uns nicht belästigte. Am Ende des Abteils angelangt, drehte sich der Schaffner noch einmal um. Seine Blicke erfassten rasch die Situation..., denn soeben hatte sich Herr M. von seinem Platz erhoben und mich im Flüsterton wissen lassen: „Bis später. Die Pflicht ruft. Ich muss meinen Kontrollgang absolvieren. Ich hoffe, Sie können mich für einige Minuten entbehren?“ Der Schaffner erbleichte, mir begannen die Knie zu zittern... In solchen Fällen, also wissend, dass sich ein Kontrollorgan bereits im Zug befindet oder möglicherweise zusteigen wird, hatten die Schaffner Fahrkarten parat, die dem Sonderfahrer zugesteckt wurden, um einen Eklat vorzubeugen. Diesmal hatte der „Onkel“ keine Gelegenheit mehr gefunden, mich entsprechend auszurüsten, konnte er doch nicht ahnen, dass die Maus sich justament mit der Katze anfreunden werde... Mir ging es auch nicht um eine eventuelle Pönale, sondern vielmehr um die Schmach, die über mich hereinbrechen könnte. Nun, es war sowieso schon zu spät, denn Herr M. schritt auf den Schaffner zu, und beide starteten, anscheinend an irgendeinem Zugende beginnend, den Kontrollgang.
Ich fieberte eventuellen Lösungsmöglichkeiten entgegen. So sehr auch meine Phantasie zu blühen sich Mühe geben wollte, es fielen mir lediglich faule Ausreden ein. Damit konnte ich Herrn M. doch nicht kommen... Das konnte ich mir doch selber nicht antun. Von verlorener Fahrkarte bis das darauf - vergessen - Haben, eine zu kaufen, fiel mir alles Mögliche ein, jedoch nichts plausibel Klingendes... Ich harrte der Entwicklung, die auch nicht lange auf sich warten ließ. Schon stampfte der Schaffner, dem offenbar das Herz in die Hose hinuntergerutscht sein dürfte, heran: an seiner Seite Herr M. Mein Gegenüber zückte seinen Pendlerausweis. Darauf Herr M. zu mir gewandt: „Es dauert nicht mehr lange, wir sind gleich fertig.“ Mein Blutdruck schnellte in die Höhe, mein Puls schoss expresszugtempogleich dahin. Verlegen stammelte ich einige Worte, doch die beiden Eisenbahner schienen es eilig zu haben... Die benachbarten Mitreisenden wunderten sich nicht im geringsten darüber, dass man nicht begierig war, meine Fahrkarte zu kontrollieren. Jeder war viel zu sehr mit seinen eigenen Problemen befasst, als sich um solchen Kleinkram kümmern zu wollen.
War die Hürde nun genommen oder nicht? Wenn er aber doch etwas zu sehen begehrt? Ich weiß nicht... Wichtig ist, sich nichts anmerken zu lassen. Doch ans sprichwörtliche „ruhig - Blut - Bewahren“ war überhaupt nicht zu denken. Zu sehr war ich in Aufruhr. Lesen! Lesen lenkt ab und hilft meistens. Die Flucht ins Buch misslang: Herr M. stand plötzlich wieder da und meinte lakonisch: „Geschafft!“ Ich war es aber auch. Wir plauderten weiter, ohne das Kontrollgang -Thema zu berühren. In Temeswar angelangt, herzliche Verabschiedung mit Grüßen an seine Familie usw. Ich wollte dem armen „Onkel“ seinen Anteil zustecken, doch so sehr ich dies auch versucht hatte, es gelang mir nicht, ihn ausfindig zu machen. Ich wurde ungewollt zum Schwarzfahrer und dies ausgerechnet dank der unbewussten Mithilfe eines Kontrolleurs.
Mit dem festen Vorsatz, den „Onkel“ bei der nächsten Gelegenheit zu entschädigen, ging ich meinen Temeswarer Geschäften nach... |
Die „Muschkiuletz-Verbindung“
von Dr. W. Alfred Zawadzki
Temeschburg im Jahre 1986. Steif, stur und unflexibel schlitterte das sozialistische System mehr und mehr in den von der Gesellschaftsordnung verursachten Sonnenuntergang. Der Arbeiter- und Bauernstaat, der in den letzten zehn Jahren nur noch künstlich am Leben erhalten wurde, musste sich tagtäglich neue Misserfolge eingestehen. Die sozialistische Planwirtschaft, nur noch in den demagogischen Schlagzeilen der Propaganda-Presse vorhanden, verkündete, unkoordiniert und überstürzt, vorgegaukelte Bilanzen, an die niemand mehr glaubte. Angesichts der verzweifelten Lage der Volkswirtschaft sah sich der Staat gezwungen, auf seine Bürger einen immer stärkeren Druck auszuüben. Die Selbstverwaltungsbefugnisse industrieller Unternehmungen wurden den Betriebsräten buchstäblich entzogen und einzelnen, meist inkompetenten, von oben ernannten staatlichen Direktoren übertragen. Als Folge dessen waren immer neue Entbehrungen an der Tagesordnung. Obwohl, eine Tugend musste man dem Sozialismus zugestehen: Man versuchte mit brachialer Gewalt das Elend gleichmäßig zu verteilen.
Der an Entsagung gewohnte Temeswarer Bürger konnte sich anscheinend mit dem Mangel an Konsumgütern, Heizung und Elektrizität arrangieren, nicht aber mit dem Verzicht auf Lebensmittel. Trotz der seit 1975 üblichen Rationierung der Grundnahrungsmittel gab es in den meisten Haushalten genügend „zu Essen“. Nach dem Motto „Not macht erfinderisch“ wurden Kontakte zu Angestellten der Lebensmittelindustrie hochgezüchtet und es begann ein – der primitiven Kommune nicht unähnlicher – Tauschhandel, der im Endeffekt darauf zielte, sich und seiner Familie das „tägliche Brot“ zu sichern.
Fleisch und Wurstwaren in guter Qualität, das begehrteste – allerdings auch am schwersten zu beschaffende – Gut, gab es ab 1980, zumindest offiziell, nirgends zu kaufen. Auf grauen, dunkelgrauen und schwarzen Kanälen schlich man an die wenigen Leute heran, die Zugang zu den Lagern der Metzgereierzeugnisse hatten. Deren privilegierte Stellung, mit Sicherheit schwer erkauft und bestimmt noch schwieriger zu halten, verschaffte ihnen einen nicht zu vernachlässigenden Respekt. Diese Personen lebten allerdings auch gefährlich. Miliz- oder Securitate-Angestellte, die ja selbst gern aßen, hielten zwar ein wachsames Auge auf die in Frage kommenden Leute, ließen sich aber – korrupt wie sie nun mal waren – mit genau dieser Ware bestechen. Ein Angestellter eines Schlachthauses, einer Schweinezüchterei oder eines Metzgerladens, hatte somit viele zu versorgende „Münder“. Die Arbeitsverhältnisse in diesen sozialistischen Betrieben waren immerhin geprägt von „kameradschaftlicher Zusammenarbeit“ und „gegenseitiger Hilfe“ der „von Ausbeutung befreiten“ Werktätigen. Deswegen waren die der normalen Bevölkerung zugänglichen Geschäfte so gut wie immer leer. Die älteren Herrschaften erzählten – in kapitalistischer Vergangenheit schwelgend – von den „guten alten Zeiten“ vor 1940, in denen auf dem Metzgerei-Schaufenster „Tache M¥celaru“ (Tache der Metzger) geschrieben stand und im Laden Fleisch zu kaufen war, im Gegensatz zu 1986, wo auf dem Schaufenster „Fleisch“ stand und im Laden kein Fleisch, sondern nur Tache der Metzger war. Im Kapitalismus wurde der Mensch vom Menschen ausgebeutet. Im Sozialismus ist es umgekehrt. Dazu kommen allerdings noch Knebelungen durch die Parteifunktionäre und sämtliche Organe des Staates.
Obwohl ich als Zahnarzt durch meine Patienten Zugang zu vielen Tabu-Bereichen der sozialistischen Vettern-Wirtschaft hatte, waren die Zeiten schlecht und ich tat mich mit der Fleisch- und Wurstwarenbeschaffung auch schwer. Die Obrigkeiten waren angehalten, auch jene zu bestrafen, die sich „ungerechtfertigt“ im Besitz von Fleisch oder Wurstwaren befanden, deren Herkunft – zumindest „gesetzlich“ – nicht nachzuweisen war. Deswegen durfte man sich nicht erwischen lassen. Ein Kilo Fleisch alleine war sicher nicht gefährlich, wenn aber einige Stangen Salami dazukamen, waren die Probleme vorprogrammiert. Gelegentliche Haus-, Speisekammer- und Kofferraumdurchsuchungen durch die Ökonomische Miliz waren gefürchtet. Wie ein ehelicher Zerberus, der lauernd und witternd die kleinsten Gefahrenherde im Keim erstickt, sollten die Geheimdienstler über die „Wilderer“ wachen. Die leeren Mägen verlangten aber mindestens dreimal täglich ihre Rechte und so siegten die Triebe – im Nebel der Pflicht – immer wieder meterhoch über die Moral. Unser liebes Temeschburg war verfangen in den Klauen eines Systems, das Menschen und Würde verachtender kaum sein konnte. Timi¥oara, die westlichste Frontstadt im sozialistischen Rumänien, ein Hort der antikommunistischen Avantgarde, der Stachel im sozialistischen Fleisch. Die Großstadt mit dem größten Anteil an deutscher Bevölkerung, wo die Skepsis der Milizionäre wie eine gigantische Fledermaus über die mit westlicher Kultur verseuchten Bürger wachen sollte. Der „Eiserne Vorhang“ verhinderte zwar, dass wir nach draußen gelangten, der mit westlicher Musik und Reklame geschwängerte Äther allerdings und die Fernsehwellen der parteifeindlichen Medien konnten in der Banater Steppe besonders gut empfangen werden. In der Tristesse des sozialistischen Daseins waren wir mit den Jugendlichen aus Wien,
München und London durch die Musik der Beatles und der Rolling Stones vereint. Im Gegensatz zu anderen rumänischen Städten hatten wir nicht nur bessere Bücher und Schallplatten. Der Geschäftssinn und die Tüchtigkeit unserer Vorfahren schufen noch im 19. Jahrhundert eine solide, kaum klein zu kriegende Infrastruktur, die in Temeswar und Umgebung Arbeitsplätze und Wohlstand sicherte. Obwohl der Sozialismus das meiste an Initiative und Unternehmergeist vernichtete und die zahlreich vorhandenen Betriebe in „Volkshand“ übergegangen waren, produzierte man im gesamten Kreis Temesch so viele Lebensmittel wie im ganzen restlichen Land zusammen. Wir Temeschburger waren also nicht nur durch unseren Heimvorteil favorisiert.
Einer meiner Patienten, dem ich eine ziemlich schwierige Zahnfleischchirurgie gemacht hatte, wollte sich nach abgeschlossener Behandlung erkenntlich zeigen und bot mir an, bei Bedarf, jedwelche Fleisch-, Wurst- oder Aufschnittsorte besorgen zu können. Angesichts der täglichen Gratwanderung, die ein jeder von uns durch die Maschen des Knüppelsystems absolvieren musste, wollte ich das nicht ganz glauben.
Mein Patient bestand aber darauf, ihn auf die Probe zu stellen. Er hätte eine Führungsfunktion im Temeswarer Schlachthof und beste Verbindungen. Ich bat ihn somit „spontan“, einen „Prager Schinken“ und zwei „mu¥chiule¥i“ (Schweinelendchen) zu besorgen. Er meinte, dass das alles kein Problem sei und dass sich am darauffolgenden Tag jemand bei mir melden, das Geld in Empfang nehmen und mir berichten werde, wann und wo ich meine Ware bekäme.
Einen Tag später kam – eigentlich wie gewohnt – unsere „Klinik-Putzfrau“ mit einem kleinen Wäschekorb. Sie ging auf mich zu, hob ein paar weiße Kittel hoch und zeigte mir im Inneren des Korbes ein kleines Geheimfach. Dort sollte ich mein für die Metzgereisachen vorbereitetes Geld deponieren. Sie flüsterte mir zu, ich solle kurz vor der Mittagspause meinen Kofferraum unabgesperrt lassen und zu Mittag unbedingt nach Hause fahren, um „abzuladen“.
Ich war platt. Frau Miklos kannte ich seit mindestens zehn Jahren. Sie war streng gläubig, immer adrett angezogen, bescheiden und stets hilfsbereit. Sie wusch und bügelte ab und an meine außerplanmäßig besudelten weißen Kittel. Ich revanchierte mich mit Kaffee und Zigaretten. Sie nahm immer dankend an. Sie hatte einen Säufer als Mann und mehrere Kinder zu versorgen. Sie war fleißig und sich dessen bewusst, dass sie mehr wollte, als ihre Lage unter normalen Umständen ermöglichte. Die prekäre Situation erzwang bei ihr einen typischen Dualismus: Tiefe Gläubigkeit paarte sich mit einem unlöschbaren Durst, strenge moralische Richtlinien mit dem Ehrgeiz, ihrer Familie das Nötigste beischaffen zu können, beruflicher Gehorsam mit dem Drang, aus allen Schranken auszubrechen.
Kurz vor zwölf Uhr mittags kam unsere Sterilisationsschwester herein und fragte, ob ich vergessen hätte meinen Kofferraum aufzusperren. Da ich an dem Morgen viele Patienten hatte, vergaß ich tatsächlich, mich an die Vereinbarung zu halten. Ich solle ihr die Schlüssel aushändigen, sie würde das für mich erledigen. Auch du, meine Sterilisationsschwester? So gegen Eins ging ich zum Auto, um heimzufahren. Ich öffnete seelenruhig den nicht verschlossenen Kofferraumdeckel und dachte, mich trifft der Hammer. Ich zählte ganz schnell 6 (sechs) Stangen Salami, 3 (drei) „Pariser Würste“, etliche Stücke Prager Schinken und mehrere nicht zu überblickende, sauber eingeschweißte Schweinelendchen. Ich schlug die Haube zu, blickte um mich, wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb, sah an den Fenstern des Poliklinik-Gebäudes hoch, als ob tausend Blicke auf mein Tun herabblickten. Es war aber keiner da. Mein Puls schlug rhythmisch in den Ohren, meine Knie waren weich und ich war wie gelähmt. Ich wusste, ich sollte ins Auto steigen und wegfahren, doch es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder in der Gewalt hatte. Es war die Zeit der Lindenblüten, ein Duft, der mich bis dahin immer betörte und mich veranlasste, etliche Male tief einzuatmen. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Die damals empfundenen Gefühle waren sehr kräftig. Meine Angst interferierte so stark mit dem Lindenblütenduft, dass mich auch heute noch aufkommender Lindenblütengeruch in eine ähnliche Stimmung versetzt. Ich beruhigte mich erst als ich alles abgeladen und verstaut hatte.
Am nächsten Morgen war ich etwas spät dran. Ich sauste hastig an Herrn Cazacu (unserem Pförtner) vorbei und rief laut – wie sonst immer auch – „S¥ tr¥iasc¥ domn’ Cazacu“ (Es lebe Herr Cazacu). Er, der sonst immer „S¥ tr¥iasc¥ domn’ Doctor“ zu rufen pflegte, lief mir nach und fragte: „... cum a fost mu¥chiule¥ul?“ (… wie war das Schweinelendchen?). Ich dachte so bei mir, dass ich wohl im falschen Film sei?! Wer war eigentlich noch eingeweiht? Wie dicht sollte dieses Spinnennetz verwoben sein?
Zwei amerikanische Studenten baten mich in der Frühstückspause um eine Unterredung. Das Funkeln in ihren Augen deutete auf etwas Wichtiges. Sie meinten, sie hätten „ein paar Kilo Fleisch“ übrig. Sie bräuchten ein größeres Studentenzimmer und wollten diskret wissen, ob man evtl. den Administrator des Studentenwohnheims damit „überzeugen“ könnte?!? Den Kampf gegen die westlichen Einflüsse hatten die Parteikader eh verloren. Die vielen ausländischen Studenten, die man sich ins Land geholt hatte, zahlten harte Devisen für einen akademischen Grad. Dadurch kam noch mehr internationales Leben in Temeswars provinzielles Dasein. Die wollten allerdings auch essen. Die wollten sich auch unterhalten. Man musste damit rechnen, dass sie sich evtl. auch mit der einheimischen Bevölkerung „vermischten“. Den Klassenfeind hatte man wirtschaftlich eingebunden, auch wenn er ideologisch nicht sauber war.
Kurz vor der Kollegiumsbesprechung im Ärztezimmer kam unsere Lektorin auf mich zu, zog mich zu sich und wollte mich „ins Vertrauen nehmen“. Ich hatte eigentlich keine Lust, mit ihr zu reden. Ich konnte sie nicht ausstehen. Sie war dumm, hochnäsig und professionell weit unter dem Limit. Sie hatte ein seltsames Talent. Gefangen im Kerker eines hässlichen Körpers, unbeliebt und schlecht vorbereitet, konnte sie sich nur mit Lügen und Intrigen bemerkbar machen. Sie litt darunter, dass keiner sie mochte, hatte aber nicht genug Charakterstärke, ihre Unzulänglichkeiten und ihre Feldwebel-Manieren zu überwinden. Ihre emotionalen Wärmflaschen waren Alkohohl und schlank machende Medikamente. Die Studenten mochten ihre Kurse nicht und noch weniger ihre praktischen Anwendungen. Wir hatten damals jeder acht Studenten zu betreuen. Da alle ihre Studenten von ihr wegliefen und zu mir ins Vorführzimmer kamen, schwärzte sie mich immer wieder beim Professor an. Ich hatte also täglich Ärger wegen ihr und jetzt wollte sie auf einmal mein Freund sein? Plump wie ein junges Nilpferd grinste sie mich an und meinte, sie würde in der darauf folgenden Woche mehrere Schweinelendchen bekommen und bräuchte sie nicht alle. Ob ich wohl zwei abhaben wollte? Sie hätte bereits den Professor gefragt. Der sei aber eingedeckt.
Der fleischige Stoff, aus dem unsere damaligen Träume gewoben waren, wurde plötzlich inflationär. Wie schmal der Grat doch sein konnte zwischen Hunger und Überfluss. Ich fragte mich, wie lang es wohl gedauert hatte, bis sich in unserem Schmelztiegel von Nationalitäten, Bräuchen und Sprachen dieses dichte ineinander geflochtene, alles überragende Netzwerk gebildet und das soziale Gegeneinander in einer nicht enden wollenden Lebensbejahung aufgehoben hatte. Was die sozialistische Gesellschaftsordnung, Partei, Öko-Miliz und Securitate nie geschafft haben, gelang einer aus der Not erwachsenen Methode: „der mu¥chiule¥-Verbindung“! |
Soldaten schossen in die Luft– Die Luft war in den Lungen
Temeswar nach der Revolution
Entnommen aus dem Essay-Band „Hunger und Seide“, Rowohlt Verlag (rororo 13601)
von Herta Müller
Temeswar liegt hinter den Ebenen. Hinter allen Ebenen, wenn man aus einem angrenzenden Land, aus Jugoslawien oder Ungarn kommt. Es sind die Ebenen, die sich in Gräsern und Feldern, in Maulbeerbäumen, in Dörfern und kleinen Städten unmäßig verlängern. Stundenlang fährt man auf Temeswar zu. Es wird Abend, da hilft auch das Rote des Klatschmohns nicht. Auch nicht das Weiße der Schafe. Es ist das flache Land der Ungeduld. Die Augen suchen nach der Stadt und verirren sich. Der Weg reißt sich los von den Rädern und fließt: die Einfahrt ins Land ist ein Schlagbaum, ein paar stille Formalitäten zwischen Händen, die zu groß sind, für jedes Stück Papier. Ein Paar Schritte zu viel, aber langsam. Dann zwischen Bauerngesichtern mit neuen, viel zu großen Mützen, die allernötigsten Sätze. Der Kofferraum des Wagens wird bloß auf und zu geklappt. An der Mütze des Grenzers glänzt die goldene Kordel. Am Mützenschirm ein Rand aus Eichenblättern, ein goldener Kranz, wie an den Deckeln der Särge. Die Lederjacken sind neu und viel zu groß. Sie tragen sich selbst. Die Lederjacken sind so, wie sich ein Rumäne einen amerikanischen Polizisten vorstellt. Auch hinterm Schlagbaum sind Ebenen. Es regnet, kein Wind, kein Gewitter, nur stures, lautloses Wasser, dass man nicht sieht. Dann das Schild neben der kleinen Brücke. Der Fluss heißt: „Timi¥ul mort“(die tote Temesch), ein Name, der über sich hinaus weist seit der Revolution, seitdem es in Temeswar 130 Tote und 30 Vermisste gibt.
Wo die Stadt beginnt, wird Müll verbrannt – ein ganzes Feld aus schwerem Rauch und feuchtem Gestank. Dann ein Neubauviertel aus nacktem, schiefe m Beton mit beleuchteten Fenstern. Zwischen den Wohnblocks aufgeweichte Erde. Das Feld kriecht unter die Schuhe derer, die hier wohnen, die hintereinander mit Kindern auf dem Arm laut reden und in Türen gehen. Zwischen der Kathedrale und dem Opernplatz ist eine Fußgängerzone, früher „Corso“ genannt. Lampenmaste mit milchweißen Kugeln stehen hintereinander, viele Kugeln an einem Mast, zusammengerutschte Monde, von denen immer nur einer leuchtet. Wie Wäsche an Leinen hängen Plakate auf dem Opernplatz: „Nieder mit dem Kommunismus“, „Iliescu Präsident, damit es so bleibt, wie es war“, „Ceau¥escu sei nicht traurig, Iliescu ist Kommunist“. Eine Handvoll junger Leute sitzen auf Klappstühlen und Schlafsäcken. Sie übernachten seit Tagen auf diesem Platz. Andere, Junge und Alte, kommen und reden sich in Traurigkeit und Wut und gehen. Die Schlafsäcke sind nass, man sieht es, ohne sie anzufassen. „Freie Wahlen“ sagt ein Mann und lacht und lacht seine eigene Stimme aus, „Wenn der König Mihai im Land gewesen wäre, wär’ das nicht passiert“. Und eine Frau, die einzige hier zwischen den Männern, fragt: „wie im Land“? Ihr Gesicht ist schmal und jung, hat schon die harten Kanten, die älter sind als sein Jahre. Der Mann sagt: „ Meinetwegen als Tourist“, und steckt die Hände in die Hosentaschen und dreht sicht um und geht. Die Frau ruft hinter ihm: „Du hattest einen Präsidenten, keinen König zu wählen, mein Gott, so ein Blödsinn.“ Das Pflaster glitzert, nimmt von irgendwo Licht her, wo es gar keines gibt.
Ein Mann zieht den Schuh aus der Pfütze, schaut zum Himmel hinauf: „Hier regnet’s“, sagt er, „Und um die Dörfer, wo das Getreide steht, fällt kein Tropfen.“ Dann fährt ein selbst gebastelter Rollstuhl so rasch über die Steine, wie man nicht hinsehen kann. Ein junger Mann ohne Bein sitzt darin. Der Man dreht mit der einen Hand an einem Lenkrad. Es ist von einem Kinderdreirad, es reicht ihm unters Kinn. In der anderen Hand hält der Mann ein Spielzeuggewehr, das gelbe Funken versprüht und nicht knattert. „Ohne Gewalt“, ruft der Mann „ ohne Gewalt.“ Man kennt ihn und den Rollstuhl und die Funken seines Gewehrs. Niemand beachtet ihn, seitdem der Rollstuhl stillsteht. „Wenn Ceau¥escu leben würde, hätte er Iliescu gewählt“, sagt der Mann vor sich hin. Auch sein Gesicht ist den Jahren voraus. Eine Ahnung, die vom Leben übergangen wurde, ist sein Jungsein. Sein Hemd hat kurze Ärmel, und es ist Nacht und nasskalt, und er friert nicht. Die enge Straße zum Hotel ist menschenleer. Von der Kathedrale her schlägt die Glocke elfmal. Das Kopfsteinpflaster ist glatt vom Glänzen, wenn man drüberschaut, und holprig unterm Schuh. Und die Linden blühen im Regen so schwer, dass man den Duft auf der Stirn tragen muss, an den Polizisten vorbei, die den Eingang des Hotels bewachen.
Das Restaurant im Hintergrund der Hotelhalle ist seit zwei Stunden geschlossen, die Schließzeiten sind die alten geblieben, wie so vieles hier. Es gibt Verbote, denen sich niemand nähert. Als Ceau¥escu sie einführte, waren sie lebensfremd. Doch jetzt, nach so langer Einübung, fällt niemandem ein, daran zu rütteln: der Diktator ist hingerichtet, sein Zeigefinger kann das Verbot nicht verschärfen. Das beruhigt ein Volk, für das vor Ceau¥escu die Nächte lang und laut und beleuchtet waren. Da hat man das Reden und Singen verlernt und das Flüstern gelernt, da wurde kein Abend mehr, auch wenn’s Sommer war, zum Spaziergang im Park. Da herrschte das Bett und der Winterschlaf in dicken Kleidern, mit Mütze und Schal, und der Sommerschlaf nackt in verrutschten Tüchern, zwischen angeheizten Wänden aus Beton. So ist es geblieben. Eine Großstadt im Schleichschritt der Nacht. Sie gehört der Polizei. Auch am Tag.
Verdreifacht, sagen die Leute, hat sich seit den Wahlen die Anzahl der Polizisten in der Stadt. Und ihre Schüchternheit nach dem Massaker ist vorbei. Junge, ganz junge Polizeigesichter, denen man das langjährige Verbrechen nicht zutraut, wurden aus anderen Landesteilen nach Temeswar gebracht. Sie haben Anweisungen, den raschen, gelenkigen Geschäften der „Schwarzhändler“ nachzugehen. Wie vor der Revolution beschlagnahmen sie Waren ohne Beleg. Helfen, statt den Tatbestand aufzuzeichnen, mit dem Gummiknüppel nach, wenn ein Händler ihnen seine Waren nicht wortlos überlassen will. Dann sind die Waren spurlos verschwunden, der Händler hat keinen Beweis, hat sie nie gehabt. Das ist Diebstahl im Namen des Gesetzes. Jeder weiß: die Polizisten verteilen die beschlagnahmten Waren untereinander. Zurückbleiben Demütigung und sprachlose Wut auf der einen Seite, Willkür und arroganter Genuss auf der anderen Seite. „Schwarzhandel“, dahinter verbirgt sich nichts als kleine lebensnotwendige Dinge, die man im Staatshandel nicht kaufen kann: Fernseher und Video-Geräte, Glühbirnen und Streichhölzer, Seife und Zigaretten, Waschmittel und Toilettenpapier, Fleisch und Schokolade. In den Gemüseläden stehen staubige Marmeladengläser und klebrige Saftflaschen. In den zerbrochenen, leeren Kisten liegt nicht einmal ein welkes, verlorenes Blatt. Auf dem Privatmarkt, gleich neben dem Ausgang des leeren Gemüseladens leuchten die Farben. Auch die Preise: 1kg Erdbeeren kostet 60,- Lei, ein kg Tomaten 70,- Lei, 10 Kirschen 5,- Lei. Da kann sich ein Arbeiter mit seinem Lohn pro Tag, nicht einmal das Gemüse für eine Suppe leisten. Was hilft da der Gummiknüppel, wo die Versorgung aus Versorgungslücken besteht, wo der „Schwarzhandel“ das tut, was der Staat zu tun versäumt.
Temeswar wird seit den Wahlen anders als die anderen Städte des Landes bewacht. Die Stadt der Revolution wird in Bukarest nur ungern erwähnt. Die alten Genossen aus der K. P. haben sich die Rose ins Knopfloch gesteckt, sich die „Königin der Blumen“ an die Brust gedrückt, haben Schulter an Schulter die Front gebildet zur Rettung der Nation. Sie retten und retten seither – über die Köpfe hinweg. Zuerst provisorisch, kurz danach, süchtig nach Endgültigkeit, schon nicht mehr im Stande sich aufzulösen, auf sich zu verzichten. Die Rechnung ist aufgegangen: wer sich wie Iliescu lange genug auf dem Bildschirm zeigt, wer die Rose vor die Faust hält, wenn er Demonstranten als Vagabunden beschimpft, der bleibt in den Köpfen. Der wird von den Ahnungslosen, von Tausenden, deren Weltsicht seit Jahren in verelendeten Dörfern und Städten aufs Überleben beschränkt, nur weil er Ceau¥escus Gesicht, durch sein eigenes ersetzt in den Sattel gehoben. Die Rose der Front riecht nicht. Sie knistert und bringt Unberechenbares in ihrem eingerollten Herzen. Viele wissen das: Iliescu lächelnd, mit sicheren Gesten. Und die aus der Nationalliberalen Partei und die aus der Bauernpartei wissen das: klein und verzettelt, besorgt, aber schon hoffnungslos. „Wir können uns nicht halten“, sagen sie und meinen die Opposition. Und meinen immer auch sich selbst. Sie haben kein Geld, keine Schreibmaschinen, kein Papier, keine Erfahrung.
Die unabhängige Zeitung „Timi¥oara“, das „Fernsehen Timi¥oara“, das erst nach 24.00 h, wenn das Bukarester Fernsehen Sendeschluss hat, senden darf, die „Liga der Studenten“. Menschen, die reden und reden, deren Sätze aus der Hast in die Lähmung gleiten, bis sie in die eigene Mundhöhle fallen. Idealisten, die ohne Geld arbeiten, die da wo sie selber sind, noch zappeln. Zappelnd schon die Tage zählen und im Schlepptau in ihrem eigenen, schon den Stillstand spüren. Wenn sie verschwinden, werden sie verschwunden sein. Es wird sie nie mehr geben. Sie sind von Wohnung zu Wohnung gegangen in der Stadt und haben die Toten gezählt. Und haben Hinterbliebene getroffen, die ihre Toten verschweigen wollten. Sie haben die Studenten der Stadt zum Streik aufgerufen für die Autonomie der Hochschule und von 4500 Studenten, die es in Temeswar gibt, sind 35 gekommen. Und eine Studentin trägt eine Jacke, mit dem FDJ-Emblem aus Glitzerfäden am linken Ärmel. Ja, von einer Hilfe-Sendung aus der DDR habe sie die Jacke, sagt sie. Ja, vor einer Woche, habe man ihr gesagt, was das Emblem bedeute. Nein, sie habe es nicht entfernt, es sei schön und es wisse ja niemand was es bedeute. Aber sie selbst? Sie senkt die schön geschminkten Augenlider, sie zuckt die Schultern, das goldene Kreuz zittert an ihrer Halskette. „Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht“ sagt sie. Dann ist ihr Augenaufschlag groß und leer und ihr Blick woanders. Hier im Hof der Mechanik-Fakultät, wo der Streik beginnen sollte, liegt ein Quadrat aus Sonne und Gras. Ein leeres Quadrat aus Sonne und Gras ist dieser Streik. Ein paar Schatten gehen hindurch, gehen so unsicher weg, wie sie gekommen sind. Der Streik ist zu Ende, bevor er begonnen hat. In den Studentenheimen, darf man jetzt eigene Fernseher und Kochplatten haben. Man darf Männer und Frauen auf die Zimmer einladen, man darf Partys feiern. „Die Studentinnen kochen und werden gebumst, die Studenten essen und bumsen“, sagt ein Student, „das sind für viele Freiheiten.“ Er ist Arbeiter in einem Betrieb, studiert nach der Arbeitszeit abends. Um zu streiken ist er nicht zur Arbeit gegangen. „Die 4000, die nicht gekommen sind, sie sind keine Arbeiter, sie sind nur Studenten. Sie liegen in den Zimmern oder am Strand. Es macht müde, für Leute zu arbeiten, denen alles egal ist.“
Im „Nikolaus-Lenau-Lyzeum“, dem einzigen deutschen Gymnasium des Kreises Temesch, ist Zwischenzeit. „Die Großen sind schon weg, die Kleinen, die nachmittags Unterricht haben, kommen erst“, sagt eine Lehrerin. Zwischenzeit, auch über das Ziffernblatt der Uhr hinaus: Fast alle deutschen Schüler und Lehrer haben den Pass für die endgültige Ausreise in die Bundesrepublik in der Tasche. Im Kopf. Die Hälfte der Schüler sind Rumänen, sie bleiben. Und der Direktor Erich Pfaff. Er ist auch der Vorsteher des „Demokratischen Forums der Deutschen“ im Banat. Er lässt sich seit Jahren von Schülern und Lehrern gerne „der BOSS“ nennen. Er ist zur Zeit zu Besuch in der Bundesrepublik. Das Treppenhaus des Gymnasiums hat ein Echo. Ein ausgestopfter Hirsch steht im Glaskasten über den Treppen im Gewölbe. Auch er horcht aus seinem eingeschlossenen Wald. Die Lehrerin blickt zu ihm auf und sagt hinter vorgehaltener Hand: „Und der Boss hat Iliescu gewählt“, das hat uns den Rest gegeben.
Über den Tafeln stehen drei kahle Nägel aus der Wand – das Bild Ceau¥escus und die Wappen zu beiden Seiten sind verschwunden. Verschachtelte Gänge, hoch oben, in einem Raum, der sich mehr an den Himmel als an den Boden lehnt, wird gesungen. „Gaudeamus igitur“, das Lied der Absolventen und ausgehauchte englische Liedchen.
Während der Revolution sind in dieser Stadt, auf den Straßen, Lieder entstanden: „Grünes Blatt am Hahnenfuß/ der Geheimdienst vor Hunger jetzt sterben muss/ don’t worry, be happy“, abgewandelte Schlager, Lieder der Lippen, der Augen, der Hände, Lieder neben den Toten, für die, die am Leben blieben, weil die Kugel nicht traf. Und Witze sind entstanden, die keine sind, die beim Aussprechen den Schmerz zwischen den Worten schlucken, bevor ein Satz entsteht. Witze, die Angst zeigen und verstecken: „Ja, die Soldaten haben in die Luft geschossen – die Luft war in den Lungen.“ Diese Sätze dürfen und können nur die erfinden, die neben dem Tod gestanden sind. Auch sie, die Schüler des Gymnasiums, sagen, sie wären damals auf dem Opernplatz gewesen. Doch jetzt stehen zwei neue, rotgelackte Busse im Innenhof des Gymnasiums, Geschenke der Landsmannschaft der Banater Schwaben aus der Bundesrepublik.
Die Portierloge am Eingang des Gymnasiums ähnelt dem Glaskasten des ausgestopften Hirschs. Drei Schülerinnen sitzen darin, eng beieinander, mit angewinkelten Knien. Sie reden und stricken. An der Scheibe vorne klebt ein weißer Zettel: „N-avem cret¥.“(Wir haben keine Kreide.)
Ein Walzer fängt das Echo der kleinen Geräusche im Treppenhaus ein. Der Glaskasten des Hirschs in der Wölbung oben und der Glaskasten der Schülerinnen am unteren Treppenende scheinen im Walzer die Drehung zu wagen. Doch dann ist es nur die Drehung des Lichts in den Scheiben. Die beiden Glaskästen halten sich im Licht die Waage. Unten im steinernen Innenhof proben Schüler im senkrecht stehenden Mittagslicht den Volkstanz: Walzer und Polka aus dem Kassettenrecorder. Dieser Tanz führt die tanzenden Paare in einigen Tagen in den rotgelackten Bussen zu der gleichtanzenden Jugend der Landsmannschaft nach Ulm. Auf einer Bank, dort im obersten Klassenraum, wo gesungen wird, liegt ein Lehrbuch. Das ganzseitige Foto Ceausescus ist noch auf der ersten Seite. Nein, sie haben die Seite nicht herausgerissen, sagt die Schülerin, der das Lehrbuch gehört. Auf der zweiten Seite ist die Nationalhymne, auf der dritten Seite ein Gedicht, ein eigenes, das Ceausescu wie so oft, wenn er volksnah sein wollte, 1981 mit einer Rede verflochten hat: „Von den Pyrenäen zu den Karpaten/ wollen wir vereint wie Brüder leben/ In Arbeit und vollkommenem Frieden/ Wir wollen ein sonniges Leben haben.“ Dichten gehörte für Ceau¥escu zum Herrschen. Seine Epitheta nahm er meist aus dem Bereich der Meteorologie. Seine infantilen Metaphern waren immer Kompensation: Die Herrschaft über die Pyrenäen, wie gern hätte Ceau¥escu sie gehabt.
Wo im Stundenplan der Schule „Marxismus-Leninismus“ stand, steht jetzt „Demokratie“. Die alten Lehrbücher wurden eingezogen. Der Lehrer ist der gleiche, durch eine dreiwöchige Umschulung wurde sein Bewusstsein im Laufschritt auf den neuen Stand der Dinge gebracht. Auf die Frage, ob sie dem neuen alten Lehrer glauben, was er jetzt sagt, sieht die Schülerin ihren Daumennagel an: „Er hat das, was er vorher gesagt hat, auch nicht geglaubt.“ Erst als sie den Satz zu Ende gesagt hat, drückt sie den Daumennagel auf den Mund und hebt den Blick.
Das Rad der Veränderungen dreht sich in Rumänien um sich selbst. Die alten Genossen sind den Luftzug nicht gewohnt, sie halten sich fest und haben starre Hände. Die Speichen flirren, das Gesicht ist verzerrt, doch der Hintern rutscht von einem Stuhl auf den anderen: ein Schachbrett mit immer gleichen Figuren, keine fällt über den Rand. Der Patriarch der orthodoxen Kirche, der den Abriss der Kirchen jahrelang unterschrieben und politisch verfolgte Pfarrer belastet, statt beschützt hat, wurde abgesetzt und wieder eingesetzt. Der für das Massaker in Temeswar verantwortliche Chi¥ac ist Innenminister geworden. Der Chef des neugegründeten rumänischen Geheimdienstes SIR(Informationsdienst Rumäniens) war zwanzig Jahre lang Professor der KP-Hochschule „Stefan Gheorghiu“. Auf dem Fernsehschirm des Bukarester Fernsehens sind die gleichen Sprecher, die jahrelang Ceau¥escu als „genialen Führer“ gepriesen haben. Der neue Chef des Temeswarer Passamts war Offizier an der Grenze, die jahrelang ein Todesstreifen war. Die alte Nomenklatura wird im kleinen Rollentausch zur neuen. Wenn eine Figur, ausnahmsweise, über den Rand des Schachbretts fällt, dann erwartet sie der sorglose Lebensabend – die Frührente. Diese Aufzählungen könnte man fortsetzen. Es wären so viele wie Tage in diesem Land. Und es kämen immer neuen Aufzählungen, wie Tage, hinzu.
Die vielen ausgedorrten Topfpflanzen im Hotel. Die großen dürren Bäume in der Hotelhalle, im Restaurant, sind sie dürr hingestellt worden oder erst im Stehen ausgedorrt. Sind sie vergessen worden nach Weihnachten oder nach Ostern. Oder stehen sie da aus der Zeit des Diktators, wer weiß das. Ein Rumäne, ein Rockmusiker, erfindet dazu aus dem Stehgreif “Die Geschichte mit also“: „Also, der Grund für die dürren Bäume ist der Gärtner. Also die Revolution. Der Gärtner war vor der Revolution Geheimdienstoffizier. Also musste er entlassen werden. Also ist der Gärtner Hoteldirektor geworden. Also gibt es keinen Gärtner mehr. Der Grund für die dürren Pflanzen ist also die Revolution.“ Der Musiker lacht. Sein Lachen ist bitter. „Die Geschichte mit also“ ist eine, keine Fiktion. Sie trifft zu, erzählt sich weiter, ereignet sich auch jetzt, hier im Frühstücksraum, zwischen den Tischen und zwischen den Gesichtern. Aus der Vitrine mit dem Frühstücksbuffet starrt uns ein dünner Ast an, die grauen fetten Wurstscheiben liegen zwischen grünem Knoblauch und zerbröckeltem Schafskäse auf dem Tablett. Die Kellnerin trägt auf der weißen Schürze die Flecken vergangener Tage. Sie ist schlecht gelaunt, sie kann gut weghören, wenn man etwas bestellt. Doch sie wird hellhörig und freundlich bei der Anrede: „Frau Stewardess.“ Der Rockmusiker hat sie für sich gewonnen, sie lächelt und bringt eine Tasse Kaffee. Die anderen müssen warten.
Fünf Stunden später brennt der Mittag über der Terrasse des Hotels. Die Pappelbäume legen große Schatten auf die Tische. Aus dem Park riechen die Linden herüber, leicht, trocken und süß. Spatzen picken Krümel von den Tischdecken. Sonnenschirme warten mit noch einem Schatten unter dem Schatten der Pappeln. Doch die Terrasse ist leer. „Frau Stewardess“ steht mit sechs Kellnerinnen in der Küche zwischen dampfenden Töpfen und klirrendem Geschirr. Die Kellnerinnen erzählen leise und lachen laut. Köche drängen sich an ihnen vorbei, ohne sie zu stören. Nein, nur im Speisesaal werde bedient, mittags nur im Speisesaal, sagt „ Frau Stewardess“. Doch, die Terrasse gehört zum gleichen Restaurant. Dennoch bedient werde nur im Speisesaal, nicht auf der Terrasse. Und Kaffee gäbe es nur, wenn man auch Mittagmahl esse. Bier, dreißig Flaschen seien geliefert worden für das ganze Hotel, die seien schon weg. Die Terrasse, auf der nicht bedient wird, grenzt an den Speisesaal. Die erste Tischreihe der Terrasse steht zwei Schritte entfernt von der letzten Tischreihe des Speisesaals. Zwischen den beiden Tischreihen ist eine große, offene Tür.
Auch diese Geschichte ist eine, die sich, soweit das Land reicht, jeden Augenblick neu ereignet. An immer anderen Orten mit immer anderen Personen – die Parabel einer absurden Wirklichkeit. Man braucht wenig Phantasie, um sie in immer neuen Varianten vorweg zu erzählen. Vorwegnehmen kann man sie nicht, auch wenn man sie durchschaut. Sie wird sich immer neu ereignen, wie ein Gesellschaftsspiel, das den rumänischen Alltag in der Mitte trifft. Es ist das große Verliererspiel auf rumänisch mit so einfachen Spielregeln, wie der einfache Tag: auf Kosten der Hoffnung, auf Kosten des Verstands.
Und inzwischen wird der neue Geheimdienst in den alten Geheimdiensträumen, Tür an Tür mit dem Passamt installiert. Im Keller unten, zwischen den verschlossenen Zellen, werden die Büroräume gefegt. Die Ausstattung des Fotolabors ist intakt, die Kiste mit den alten Formularen für die Fingerabdrücke steht bereit. In einem Raum steht nichts als ein großer gemauerter Ofen und zwei lange Schürhaken. Die Ofentür steht halb offen, der Bauch des Ofens ist voll mit hellgrauer, gewellter Asche. Es ist nicht zu übersehen: hier wurden Papiere des alten Geheimdienstes verbrannt. Nicht Blatt für Blatt, sondern ganze Mappen. Viel, egal wie viele. Denn mehr als viele gibt es noch. Und längst werden Telefone wieder überwacht. Und Todesdrohungen in Form anonymer Anrufe und Briefe gab es für Leute, die Politik gegen die „Front der nationalen Rettung“ machten, schon vor den Wahlen.
Amateurfilmer wurden durch Aufrufe in der Zeitung aufgefordert, ihre Filme über die Revolution zwecks Identifizierung übergelaufener Geheimdienstler beim Gericht abzuliefern. Viele Amateurfilmer sind dieser Aufforderung gefolgt. Ihre Filme sind seither verschwunden. Ein Chirurg, der in der Nacht des Massakers im Kreiskrankenhaus Temeswar im Dienst war, ist Augenzeuge dafür, dass ein Arzt durch unmissverständliche Anweisungen an Krankenschwestern Leichtverletzte behandeln und Schwerverletzte verbluten ließ. Dass eine junge Frau mit einem Armschuss in Begleitung ihres Mannes ins Krankenhaus kam und zwei Stunden später, nach langem Suchen, von diesem als Leiche, nackt und mit Kopfschuss in der Leichenhalle gefunden wurde. Die Anklage des Augenzeugen wurde in beiden Fällen vom Temeswarer Gericht nicht angenommen. Die Ärzte mit hohen Positionen in der Hierarchie der Krankenhäuser waren bezahlte Mitarbeiter des Geheimdienstes. Auf der Gehaltsliste der Abteilung Chirurgie stand hinter dem Namen des Chefchirurgen des Kreiskrankenhauses Petru Ignat jeden Monat die Summe von 12.500 Lei. Diese Summe war geteilt: 5000,- Lei bezahlte das Krankenhaus und 7500,- Lei der Geheimdienst. Die Invaliden der Revolution haben vom Staat als einmalige Vergütung 5000,- Lei bekommen. Die Hinterbliebenen für ihre Toten 15.000 Lei. Von Rente ist keine Rede.
Im Massengrab auf dem Armenfriedhof liegen 21 Tote. Das Gras wächst und wächst, reicht denen, die mit Kerzen kommen, bis zum Hals. Ackerwinden hängen sich an wilde Möhren, an viel zu blauen wilden Rittersporn. Die Königskerze schaut mit bleichen, dicken Blüten. Ein junger Nussbaum hat schon bittere Blätter. Hier überschlägt sich der Sommer, bevor er begonnen hat. Weshalb ist sich das Gras nicht wild genug, wenn’s grün ist. Weshalb hat hier jeder Halm noch Farben neben sich, die man nicht aushält.
Vor der Kathedrale steht ein geschnitztes Holzkreuz für die Toten. Daneben sitzt eine alte Frau auf dem Boden. Neben ihr liegen dünne, gelbe Kerzen. Die Frau isst mit dem Zeigefinger ein weichgekochtes Ei. Sie taucht die Fingerspitze in das Ei und leckt sie ab. Quer über die Straße geht eine Kolonne Soldaten. Jeder hier weiß, am ersten Tag haben sie geschossen. Man hört schwere Schuhe auf dem Asphalt. Die Söhne des Volkes, erst am zweiten Tag gehörten sie zum Volk. Der Eidotter, die Fingerspitze der Alten, ihr Mundwinkel und die Kerzen haben die gleiche Farbe. Es ist Frieden eingekehrt, die Soldaten gehen ins Kino. Wie oft wird die Fingerspitze der Alten eintauchen, bis sie das Ei gegessen hat? |
Klaus Wolff Hilft Menschen in Not
von Gerhard Peter BAUER
Der Verein zur Linderung sozialer und menschlicher Not in den neu entstehenden osteuropäischen Demokratien (NOD) unter der ehrenamtlichen Führung von Klaus Wolff hilft schon seit 14 Jahren, die Armut und Not in Osteuropa (hauptsächlich in Rumänien und Bosnien) zu lindern.
Als am 23. Dezember 1989 die Berichte vom Umsturz und der Not im Fernsehen gezeigt wurden, entstand bei K. Wolff der Gedanke, selbst zu helfen, nicht nur mit 50 DM, um das eigene Gewissen zu beruhigen, sondern direkt und unbürokratisch mit Waren vor Ort. Der aus Halle an der Saale stammende Lehrer an der Grund- und Hauptschule in Stuttgart-Stammheim konnte sich noch gut an die Care-Pakete aus Amerika erinnern und die Freude, die er beim Auspacken empfunden hatte. Wie einst die Amerikaner für Deutschland wollte Wolff Care-Pakete für Rumänien organisieren. Die spontane Idee wurde am 31. Dezember 1989 verwirklicht: Freunde, Bekannte und ein Spenden-Aufruf in der Lokalzeitung sowie im lokalen Radiosender ermöglichten den Aufbruch mit zwei 7,5-Tonnen-Lastwagen in Richtung Temeschburg. Silvester feierte der kleine Konvoi an der rumänischen Grenze mit Grenzern und den „neuen“ Milizen, die auch die Weiterfahrt nach Temeschburg sicherten.
Aus dieser Hilfsaktion entwickelten sich sehr gute und verlässliche Verbindungen, die für die nachfolgenden Transporte von eminentem Vorteil waren.
Dank der großen Spendenbereitschaft der Stuttgarter Bevölkerung strömten zahlreiche Hilfsgüter wie Lebensmittel, Kleidung, Spielsachen, Medikamente und ärztliche Ausrüstungen nach Stuttgart-Stammheim, so dass sich nicht nur die Doppelgarage von Wolff bis zur Decke füllte, sondern auch ein von der Schule zur Verfügung gestellter Raum und die halbe Reparaturwerkstatt eines benachbarten Autohauses. Schon im Februar 1990 startete der zweite Hilfsgütertransport: In sieben Lastwagen gingen 24 Tonnen „Familienpakete für Rumänien“ auf die Reise. Eine wahre Welle der Hilfsbereitschaft überrollte Wolff und die Mitglieder des neu gegründeten Vereins. Firmen und Speditionen stellten ihre Lastwagen kostenlos zur Verfügung, Freiwillige halfen beim Verpacken und Verladen der Pakete, ebenso wie sechzehn Fahrer, die ihre Freizeit oder ihren Urlaub für den Transport opferten. Die bunt gewürfelte Fahrgemeinschaft bestand unter anderem aus Lehrern, Lokführer, Mechanikermeister, Zahnarzt mit Frau und Tochter, Studenten und einigen Feuerwehrleuten der freiwilligen Feuerwehr Stammheim. Ziele waren dieses Mal Arad, Variasch, Temeschburg, Deta und Liebling. Die Pakete, die bereits in Stuttgart-Stammheim adressiert abgegeben wurden, konnten zum Teil gleich vor Ort verteilt werden oder wurden der jeweiligen Kirche zur Auslieferung übergeben. Die Straßenverhältnisse machten es einfach unmöglich, in der kurzen Zeit alle Adressen anzufahren. Die restlichen Hilfsgüter bekamen die Kirche in Temeschburg-Mehala, der Temeschburger Rundfunksender sowie Kranken- und Waisenhäuser.
Was ursprünglich als einmalige Hilfsaktion gedacht war, entwickelte sich im Lauf der Jahre zu einer regelmäßigen Einrichtung. Inzwischen sind es über 160 NOD-Fahrten geworden, bei denen Hunderte von Tonnen an Hilfsgütern nach Rumänien gefahren wurden. Dazu einige Beispiele: 1992 wurden vier Tonstudios mit Tonbandgeräten, Mikrofonen, Platten und eine EDV-Ausrüstung zu Radio Temeschburg gebracht, der heute mit über 200 Mitarbeitern der zweitgrößte Sender Rumäniens ist und aus dem so genannten „NOD-Stuttgart-Studio“ politisch unabhängig sendet. Eine Werkstatt zur Herstellung von Nägeln wurde eingerichtet, in der fünf Mitarbeiter Arbeit fanden; eine Hebebühne für eine Autowerkstatt; Nähmaschinen und dazugehörige Ausstattungen für eine Nähstube, in der Näherinnen ausgebildet werden; Hilfe für eine Sehbehindertenschule in Temeschburg; Krankenwagen für Deta; Rollstühle, Arzt- und Zahnarztpraxen-Einrichtungen, Röntgen- und Ultraschallgeräte, Ausstattung für Operationssäle; Kindergarten- und Schuleinrichtungen; Medikamente und vieles, vieles mehr.
Besonders erfreulich findet es Lehrer Wolff, dass immer wieder ehemalige Schüler kommen und freiwillig ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Nicht zuletzt durch Mithilfe von Schülerinnen und Schülern der Grund- und Hauptschule in Stammheim konnte der NOD diese Arbeit in den letzten Jahren mit Akribie fortsetzen; schließlich müssen die gespendeten Sachen verpackt und auf die Fahrzeuge geladen werden. Nur wer schon einmal einen 40-Tonner per Hand beladen hat, weiß, was dies bedeutet. Häufig sind die Hilfsaktionen spontan organisierte „Re-Aktionen“ auf Bitten bzw. Hilferufe, die inzwischen persönlich bekannte Vertrauenspersonen übermitteln. Alle Fahrer und Begleiter opfern gerne ihren Urlaub und scheuen nicht die Strapazen der langen, unbequemen Fahrt, weil sie vom Sinn ihrer Hilfe überzeugt sind.
Trotz des organisatorischen Talents des „Motors“ K. Wolff und seiner enormen logistischen Erfahrung, die er bei den zahlreichen Fahrten erworben hat, verlief nicht jede Tour wie am Schnürchen. Ich erinnere mich an zwei kleine Pannen während der Fahrten, bei denen auch ich als Fahrer und Dolmetscher dabei war. Im Oktober 1992 hatten mein Beifahrer und ich durch unseren schwer beladenen Transporter mit großem Anhänger schon einen erheblichen Rückstand zum Konvoi als wir zur österreichischen Grenze kamen. Die anderen Fahrer waren der Meinung, dass wir als Streckenkenner schon vorgefahren wären und die Grenze bereits passiert hätten und fuhren weiter. Wir standen längere Zeit an der Grenze ohne die notwendigen Papiere und den Zugehörigkeitsnachweis zum Konvoi. Als der österreichische Grenzbeamte zugab, unseren Konvoi eventuell übersehen zu haben, schlug ich ihm vor, auch die Grenze zu passieren, ohne von ihm gesehen zu werden. Er willigte ein – vermutlich hatte er Mitleid mit uns – und so kamen wir zur ungarischen Grenze. Mit Glück und Überzeugungskunst ließ man uns alle nachfolgenden Grenzen durchfahren und wir erreichten mit unserer Fracht unbehelligt Temeschburg. Wer hätte damals gedacht, dass man mit vollgeladenem Transporter mit Anhänger ohne Papiere vier Grenzstationen weitgehend problemlos überschreiten könnte!
Nur vier Jahre später bei einer Fahrt im Februar 1996 erlebten wir das Gegenteil und wurden Opfer des schnell erlernten Bürokratismus an der rumänischen Grenze. Es handelte sich um einen Transport von ca. 2 Tonnen Saatgut und Sämereien. Die Einfuhrgenehmigung vom Landwirtschafts-Ministerium sollte bis zu unserem Eintreffen an die rumänische Grenze gefaxt werden. Es blieb beim leichtfertigen Versprechen der rumänischen Behörde. Die Fahrt verlief sehr schwer: Schneesturm in Österreich, sibirische Kälte in Ungarn und schließlich keine Einfuhrgenehmigung an der Grenze. Dann erlebten wir den „wahren“ Bürokratismus, den man den Leuten in 40 Jahren kommunistischer Herrschaft anerzogen hat. Jeder an der Grenze fühlte sich als kleiner „König“, aber keiner wollte etwas verantworten. Ganz besonders wichtig hatte es der Veterinär, der das Saatgut überprüfen sollte und sich als „Kaiser“ unter den „Königen“ entpuppte. Keine Schmeicheleien oder Erklärungsversuche halfen, auch die Aussicht auf ein angemessenes Bakschisch konnte ihn nicht umstimmen. Was das bedeutet, ist Eingeweihten wohl bekannt! Man sah ihm deutlich an, dass er trotz seiner „kaiserlichen“ Würde Angst um seinen Posten hatte, außerdem müsse er noch vom Saatgut Proben nehmen und die Analysen abwarten. Wir sollten noch dokumentieren, wie viele Samenpäckchen wir von jeder Sorte einführen wollen – was wir natürlich nicht konnten! Er hätte seine Vorschriften und damit basta! Das Fax kam auch nicht, denn es war Sonntag und da arbeitet auch in Bukarest keiner. Weil wir keine Aussicht auf Erfolg sahen, schon 34 Stunden unterwegs waren und seit dem letzten Rasthaus in Passau keine ordentliche Mahlzeit hatten, fuhren wir zurück nach Ungarn, um dort unsere „erfrorenen Lebensgeister“ aufzutauen. Nach einem erholsamen Schlaf im Hotel meldeten wir uns am Montagmorgen voller Hoffnung an der Grenze zurück – doch noch immer war kein Fax angekommen. Letztendlich einigten wir uns mit den Zöllnern (ohne Wissen des Veterinärs) darauf, den Anhänger mit dem Saatgut in Ungarn zurückzulassen und nur mit dem Motorwagen (in dem sich angeblich kein Saatgut befand) nach Rumänien einreisen zu dürfen. Diese Einschränkung ließ erkennen, dass hier etwas Unkorrektes geplant, aber machbar war. Die Regelung erschien uns als guter Kompromiss, da wir zumindest das im Motorwagen geladene (etwa die Hälfte) Saatgut zum Agronomischen Institut in Temeschburg bringen konnten. So kamen wir endlich nach drei Tagen in Temeschburg an. Erwähnen möchte ich noch, dass nach einigen Telefonaten und mit Hilfe des Institutsleiters am Dienstagnachmittag der Anhänger aus Ungarn abgeholt werden konnte. Am nächsten Tag traten wir wieder die Rückreise nach Stuttgart an.
Im September 2001 wurde Klaus Wolff auf Vorschlag von Ministerpräsident Erwin Teufel das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Es wurde ein Bürger geehrt, der durch seine gesellschaftlichen, politischen und sozialen Aktivitäten ein Vorbild ist. Herausragend sind besonders Wolffs Verdienste im humanitären Bereich und als Gründer und Geschäftsführer des NOD hat er viel geleistet und deshalb diese Ehrung und Auszeichnung verdient. |